Das Selbstfürsorgeparadox
„Wenn es mir schlecht geht, fällt es schwer, das zu tun, was gut für mich ist.“ Das klingt kompliziert, ist aber etwas sehr Alltägliches. Ich kenne es von mir – und aus Gesprächen mit Kolleg:innen und Freund:innen weiß ich, dass ich damit nicht allein bin:
Die besten Chancen hat der Gang ins Sportstudio, der Griff zum guten Buch oder der Anruf bei einer Freund:in, wenn es einem gut geht. Wer aber müde, genervt oder frustriert ist, landet schnell bei Netflix, Schokolade oder den sozialen Medien. Gerade dann, wenn etwas gebraucht wird, das Energie, Zugehörigkeit oder Sinn gibt, kommt zum Zuge, was zumindest mittelfristig ein Gefühl von Leere produziert.
Das Selbstfürsorgeparadox liegt also darin, dass uns das, was guttut, dann am schwersten fällt, wenn wir es am dringendsten bräuchten. Ganz anders ist es mit Blick auf Menschen, die uns nahestehen: Je mehr ein Gegenüber unsere Fürsorge braucht, desto stärker sind wir (bei einer gesunden Beziehung) gewillt, ihm/ihr genau dies zu geben.
Wieso handeln wir nicht rational, indem wir uns dann Gutes tun, wenn wir es wirklich brauchen? Wieso behandeln wir uns selbst oft schlechter als Menschen, die uns nahestehen?
Mögliche Gründe für das Selbstfürsorgeparadox
Ich glaube nicht, dass wir hier sofort Irrationalität oder ein gestörtes Selbstwertgefühl vermuten sollten. Vielmehr fallen mir drei Mechanismen ein, die diesem Vorgehen durchaus eine gewisse Logik geben.
- Dopaminorientierung: Die mittelfristig guttuenden Aktivitäten brauchen zunächst Anstrengung, z. B. muss ich mich erst mal ins Yogastudio begeben. Viel attraktiver erscheint die sofort verfügbare Belohnung, die schnell zu einer hohen Dopaminausschüttung führt – also dem Botenstoff im Gehirn, der für Motivation und positive Stimmung sorgt.
- Reduzierter Kompetenzzugang: Um dem Reiz des schnellen Dopamins zu entgehen, braucht es Willensstärke und die Fähigkeit, die längerfristigen Folgen der beiden Handlungsalternativen zu vergleichen. Wer aber müde, genervt oder gar gestresst ist, hat weniger Zugang zu den eigenen Kompetenzen. Mein müdes Ich ist also willensschwächer und kann die Folgen des eigenen Handelns schlechter abschätzen als mein fittes Ich.
- Macht der Gewohnheit: Jeder Dopaminkick führt zu einer Verstärkung des gerade durchlaufenden Handlungsmusters – und zwar auch auf der neurologischen Ebene. Je öfter ich also auf der Couch statt im Wald gelandet bin, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mir beim nächsten Mal genauso gehen wird.
Handlungsoptionen, um das Selbstfürsorgeparadox aufzulösen
Was aber kann helfen, um das Selbstfürsorgeparadox aufzulösen?
1. Metareflexion: In Coachingprozessen habe ich es erlebt, dass es bereits einen großen Unterschied markiert, wenn Menschen sich das Selbstfürsorgeparadox und die dahinterliegenden Muster bewusst machen. Plötzlich erscheint das eigene Verhalten nachvollziehbar und die mit der Suche nach der schnellen Belohnung („Dopaminkick“) oft verbundene Scham löst sich auf.
2. Musterunterbrechung erleichtern: Mit einem Verständnis für das Selbstfürsorgeparadox wird es möglich, die Muster zu erkennen, die zu dem eigentlich unerwünschten Verhalten führen. Dann gilt es, sich auf die Suche nach Möglichkeiten zu geben, wie die Unterbrechung des Musters leichter wird, z. B. indem morgens beim Verlassen des Hauses die Joggingschuhe vor den Kühlschrank gestellt werden.
3. Die produktiven Muster trainieren: Je öfter ich im ausgeruhten Zustand das eigentlich gewünschte Vorgehen praktiziere und erlebe, dass es mir (wenn auch nicht sofort) guttut, desto stärker wird die Verankerung dieses Musters. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich es auch im müden Zustand aktivieren kann.
Übertrag auf Organisationen
Das Phänomen des Selbstfürsorgeparadox lässt sich auf einer metaphorischen Ebene auch im Verhalten von Organisationen erkennen – obwohl klar ist, dass Organisationen nicht im eigentlichen Sinne Selbstfürsorge betreiben, ins Fitnessstudio gehen oder auf der Couch landen können.
Auffallend ist aber, dass bei Organisationen in der Krise oft das kurzfristige Denken über das langfristige siegt – unabhängig davon, dass es in der Krise in bestimmten Bereichen natürlich schnelles Handeln braucht, das zeitnah Wirkung entfaltet, um Gefahren abzuwehren bzw. den Fortbestand der Organisation sicherzustellen. Aber neben einem solchen funktionalen kurzfristigen Vorgehen gibt es auch ein kurzfristiges Handeln, das weder zwingend nötig ist noch die mittel- und langfristigen Folgen im Blick hat.
Von einem organisationalen Selbstfürsorgeparadox kann man also dann sprechen, wenn in einer Krise die positiven Effekte eines nicht zwingend erforderlichen kurzfristigen Handelns von den mittel- und langfristigen negativen Folgen dieses Handelns aufgezehrt werden. Damit tut die Organisation etwas, das zunächst vorteilhaft wirkt, ihr aber langfristig schadet.
Ursachen für das organisationale Selbstfürsorgeparadox
Auch bei den Ursachen lassen sich Verbindungen zu einem individuellen Selbstfürsorgeparadox erkennen:
- Der Dopaminorientierung im Individuellen entspricht auf der organisationalen Ebene der Wunsch der Leitungskräfte, eine schnell sichtbar werdende Wirksamkeit zu entfalten. Viele Leitungskräfte sind überzeugt, dass genau das ihre Aufgabe in der Krise sei und von den Mitarbeitenden erwartet werde. Dabei passiert es leicht, dass die schnelle Sichtbarkeit der Maßnahme wichtiger wird als ihre langfristigen Effekte.
- Ähnlich wie bei Individuen wird in Krisenzeiten auch in Organisationen der Zugang zu den eigentlich vorhandenen Kompetenzen schwerer. Ermüdung und Stress sorgen gleichermaßen dafür, dass sich der Wahrnehmungsfokus verengt, und die Fähigkeit, längerfristig zu denken und zu planen, ungenutzt bleibt. Dadurch kann es passieren, dass sich solche Maßnahmen durchsetzen, die nur kurzfristig hilfreich sind.
- Und natürlich ist auch in Organisationen die Macht der Gewohnheit wirksam und fungiert in Krisensituationen als Rückfallmuster. Wenn eine Organisation in vorangegangenen Krisensituationen sich einseitig auf kurzfristige Maßnahmen konzentriert hat, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie das auch in Zukunft tun wird.
Maßnahmen gegen des organisationale Selbstfürsorgeparadox
Auch bei den Handlungsoptionen sind die Analogien zu der individuellen Situation mehr als deutlich:
- Sich in einer Metareflexion das hinter dem Selbstfürsorgeparadox stehende Muster klarzumachen, führt die Gefahr des nur kurzfristig ausgerichteten Agierens vor Augen und lädt ein, das eigene Handeln mit dieser Folie zu überprüfen.
- Als Musterunterbrechung bietet sich an, bei der Entscheidung zu Handlungsoptionen eine doppelte Analysehorizont anzuwenden: Was bewirkt diese Maßnahme innerhalb von drei Monaten und was innerhalb von drei Jahren? Außerdem gilt es zu überprüfen, inwieweit eine Maßnahme konträr zu den bisherigen Entscheidungen und Errungenschaften steht und genau damit der Organisation schaden könnte.
- Das zu trainierende produktive Muster ist bei Organisationen eine konsequente Strategiearbeit. Wenn es gelingt, unter den oft bereits anspruchsvollen Bedingungen des Tagesgeschäfts, immer den Blick zu weiten, die eigene Situation und die des Umfelds zu analysieren und mittel- sowie langfristige Zielbilder zu entwerfen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es der Organisation auch in einer Krisensituation gelingt, die kurzfristig notwendigen Maßnahmen in einem strategischen Gesamtbild zu sehen.
Mit den skizzierten Maßnahmen lässt sich weder das individuelle noch das organisationale Selbstfürsorgeparadox vollständig auflösen – menschliches Handeln ist sowohl beim Individuum als auch in der Organisation immer von Paradoxien geprägt. Aber die hier vorgestellten Handlungsoptionen können die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen, dass in Zeiten von Erschöpfung und/oder Krise es sowohl Individuen als auch Organisationen gelingt, in langfristig produktiven Mustern auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren.

