Kirche zwischen Institution, Organisation und Netzwerk
In vielen Debatten über die Zukunft der Kirche werden die Chancen der Netzwerkarbeit für die Kirche betont. Dabei ist klar, dass Kirche nie nur Netzwerk sein kann, sondern immer eine Mischung aus den drei Sozialformen “Institution”, “Organisation” und “Netzwerk” ist. Wie aber verhalten sich die drei zueinander, und welche Entwicklungsdynamik ist dabei erkennbar?
Schauen wir uns die drei Formen zunächst kurz im Einzelnen an:
A) Kirche als Institution
Kirche ist in Europa traditionell immer auch eine Institution. Institutionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in einer Gesellschaft als konstitutiv angesehen werden und sie keinen Zweck erfüllen müssen, außer da zu sein und in ihrer eigenen Logik zu agieren. Der Sinn einer Institution – so könnte man zugespitzt sagen – ist, da zu sein und Orientierung zu geben.
B) Kirche als Organisation
Spätestens in den 1960er-Jahren hat sich die Kirche immer mehr auch als Organisation aufgestellt. Eine Organisation ist durch die Ausrichtung auf Ziele gekennzeichnet. Alles Handeln soll dazu dienen, bestimmte Ziele zu erreichen. Dafür – und im Idealfall: nur dafür – werden alle Ressourcen verwendet. Der Sinn einer Organisation – so könnte man wiederum zugespitzt sagen – ist die Erreichung ihrer Ziele.
C) Kirche als Netzwerk
Den uns so vertrauten Institutionencharakter konnte die Kirche erst mit der konstantinischen Wende ab dem Jahre 313 entwickeln. Davor war die Kirche vor allem ein Netzwerk – Menschen, die durch ihren Glauben miteinander verbunden waren. Seit gut 20 Jahren erhält dieser Netzwerkcharakter der Kirche wieder mehr Aufmerksamkeit. Ein Netzwerk ist dadurch gekennzeichnet, dass seine Strukturen fluide sind und es keine oder nur rudimentäre formalen Hierarchien gibt. Die Einflussmöglichkeiten einzelner Netzwerk-Mitglieder verändern sich ständig, weil sich auch das Netzwerk ständig verändert, und kein:e Akteur:in kann ein Netzwerk steuern. Es bleibt immer ein multipolares Gebilde, das sich weder im klassischen Sinne leiten noch in seinem Verhalten vorhersagen lässt. Dementsprechend hat ein Netzwerk auch kein zentral definiertes oder statistisches Ziel. Vielmehr muss jede:r Akteur:in für sich selbst klären, worin für ihn bzw. sie aktuell die Sinnhaftigkeit der Mitarbeit im Netzwerk besteht. Der Sinn eines Netzwerkes – so könnte man ein drittes Mal zuspitzen – ist nicht einfach da, sondern muss sich für jedes Netzwerk-Mitglied immer wieder neu ergeben.
Die drei Sozialformen in Kirche und Gesellschaft
Kirche war und ist immer schon eine Mischung aus diesen drei Sozialformen – wenn auch in beständig wechselnden Verhältnissen. Es wäre naiv zu sagen, dass eine Sozialform „besser“ sei als die andere. Relevant ist vielmehr, welches Mischungsverhältnis der drei Sozialformen in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation die Anschlussfähigkeit der Kirche erhöht – anders formuliert: Welche kirchliche Konfiguration kann das Evangelium am wirkungsvollsten in die aktuelle gesellschaftliche Konstellation hinein kommunizieren?
Gesellschaftlicher Wandel seit den 1960er-Jahren
Zur Bearbeitung dieser Frage braucht es ein Verständnis, wie sich in der Gesellschaft die Bedeutung der drei Sozialformen verändert. Ab den 1960er-Jahren ging der Trend in (West-)Deutschland von der Institution zur Organisation. Nicht zuletzt die öffentliche Hand richtete sich verstärkt an der Organisationslogik aus, indem zunehmend die Ziele des Handelns und die Funktionalität und Effektivität von Maßnahmen in den Blick genommen wurden. Dabei diente die Privatwirtschaft als Vorbild, die in vielen Bereichen bereits stärker organisationförmig strukturiert war.
Die digitale Wende
Seit der Jahrtausendwende bekam im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung das Netzwerk immer mehr Aufmerksamkeit. Vor allem sein ökonomisches Potential beflügelte die Fantasien. Firmen wie Meta (Facebook & Co.) entstanden, die riesige Gewinne erzielten, indem sie die von ihnen aufgebauten Netzwerke kontrollierten und ökonomisch ausbeuteten, während die Netzwerkmitglieder, die mit ihren Aktivitäten und Daten die Grundlage für diese Erfolge lieferten, an den Gewinnen nicht beteiligt wurden. Damit wurde deutlich, dass es in digitalen Netzwerken, anders als „normalen“ Netzwerken, doch möglich ist, zu einer zentralen Steuerung und einer noch einseitig ökonomischen Ausbeutung zu kommen. Dadurch wurde das Netzwerk in vielen ökonomischen Kontexten zum Leitbild: Firmen versuchten, Netzwerke zu bilden und orientierten sich mit ihren Handlungsformen an der Netzwerklogik. Hinzu kam, dass auch die Kund:innen immer stärker netzwerkartig dachten und handelten, nicht zuletzt bei der die Nutzung der sogenannten sozialen Medien.
Die Netzwerklogik wird immer wichtiger
Als Folge ist die aktuelle gesellschaftliche Situation nicht nur durch die Verschiebung von der Institution zur Organisation geprägt – spürbar z. B. an den großen Mitglieder- und Bedeutungsverlusten von Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften, traditionellen Vereinsstrukturen und der Kirche. Sondern auch die Organisation, die lange von der Schwäche der Institution profitiert hat, steht in vielen Kontexten unter Druck. Das Netzwerk erscheint als die attraktivere Sozialform, vor allem angesichts einer ungewissen Zukunft: Es bietet mehr Dynamik, eine höhere Anpassungsfähigkeit und eine geringere Verbindlichkeit.
Aus diesen gesellschaftlichen Verschiebungen speist sich ein Großteil des kirchenentwicklerischen Interesses am Netzwerk. Dabei dürfen aber die institutionelle und die organisationale Seite der Kirche nicht in Vergessenheit geraten. Die große Herausforderung für die kirchlichen Strukturprozesse liegt darin, die für den jeweiligen Kontext passende Mischung von Institution, Organisation und Netzwerk zu finden, damit Kirche auch in der sich verändernden Gesellschaft lebendig und wirksam sein kann.