Innovationskultur: Dem Neuen Raum geben
Bei aller Ungewissheit der aktuellen Situation ist eines gewiss: In Gesellschaft und Kirche wird sich viel verändern. Das Alte wird an vielen Stellen nicht mehr tragen, es wird neue Ideen und Konzepte brauchen. Doch das klingt einfacher, als es ist. Es scheint oft kein Platz für Neues zu geben, denn viele Organisationen stehen unter einem hohen Druck und sind vollauf damit beschäftigt, sich wenigstens an die wichtigsten Veränderungen in ihrer Umwelt anzupassen.
Wie kann es da gelingen, dem Neuen Raum zu geben? Wie können die gewohnten Pfade des Denkens verlassen und Neues ausprobiert werden? Wie können in diesen unsicheren Zeiten nicht nur die Bedürfnisse nach Sicherheit im Blick bleiben, sondern die Organisationen sich auch öffnen für die Perspektive der Transformation, des Risikos und des (Ver-)Lernens? Was ermöglicht es, in bleibender Unsicherheit zuversichtlich in die Zukunft zu gehen? Diese Fragen stellen sich in der Kirche genauso wie in vielen anderen Non-Profit-Organisationen.
Wir sind überzeugt: dafür braucht es neues Handwerkzeug, neue Denkrahmen und gewiss neben den inneren auch konkrete physikalische Räume. Ausprobieren, Fehler machen, Erfolge sichern, verwerfen und lernen, neugierig bleiben und kooperieren, Ideen generieren und miteinander Neues kreieren, Ängste und Zweifel genauso wie Erfolge teilen und unmittelbaren Abwehrreflexen miteinander widerstehen: Wenn das nicht die Ausnahme für besondere Gelegenheiten bleibt, sondern zum „Humus” der Organisation wird, dann reden wir von „Innovationskultur”.
Unter diesem Titel haben wir Ende Juni eine Denkwerkstatt per Zoom angeboten. Das war vom Format und vom Teilnehmer*innen-Kreis her ein Experimentieren – rund 130 Menschen mit unterschiedlichen Rollen und Funktionen aus unterschiedlichen kirchlichen und diakonischen Kontexten nahmen an der Denkwerkstatt teil, hörten von höchst unterschiedlichen Innovationsprojekten und tauschten sich in immer neue Gruppenkonstellationen zum Gehörten aus.
Bernd Neukirch berichtete von dem Konzept der “Dritten Orte” in der ekbo. Damit sind kirchliche Orte gemeint, die jenseits der Ortsgemeinde oder der “Funktionsorte” (wie Altenheime, Krankenhäuser) an dritten Orten oder auch in (virtuellen) Räumen entstanden sind oder entstehen. Hier kann man und frau sich umschauen: https://innovation.ekbo.de/dritte-orte.html. Spannend! Voraussetzungen für diese durchaus erfolgreichen Experimente in der ekbo: Die Landeskirche gewährt zuverlässige Unterstützung, sie hat einfache, unbürokratische Verfahren der Anerkennung der Projektideen und enthält sich ausdrücklich jeglicher Steuerungsimpulse. Beobachtung und Auswertung der Beobachtungen stehen demgegenüber seitens der Landeskirche in hohem Kurs. Das breit zusammengesetzte Auswahlgremium für die neue beantragten “Dritten Orte” vergibt die Titel gemäß ihrer verhandelten Kriterien für Zuweisungen. Wer die bunte Vielfalt der Dritten Orte anschaut, kann die offene Frage sofort nachvollziehen: Wieviel produktive Unordnung verträgt eigentlich eine “ordentliche Kirche”?
Von dem Projekt der “Erprobungsräume” in der mitteldeutschen Kirche (ekmd) berichtete Andreas Möller. Dieses von der Synode im Jahr 2014 gestartete Projekt war verbunden mit dem Diktum der Bischöfin Ilse Junkermann, die sinngemäß sagte “Wir müssen Abschied nehmen von den festgefügten Bildern, was und wie Gemeinde ist!” Mittlerweile gibt es 54 dieser neuen Gemeindeformen (https://www.ekmd.de/aktuell/projekte-und-aktionen/ekm-erprobungsraeume/), die durch ihre große Diversität in Inhalt, “Größe”, Beteiligungen auffallen – und alle entsprechen den 7 Kriterien zur Anerkennung als passendes Projekt durch die landeskirchliche Auswahlkommission. Andreas Möller kann nach der langen Laufzeit interessante Beobachtungen teilen: Nichts lässt sich rezeptartig verallgemeinern; jedes einzelne Projekt findet seinen eigenen Weg! Zu beobachten aber ist, dass immer einzelne Personen mit einer Gruppe Pionier*innen den Nukleus eines neuen Projektes bilden. Wenn es ihnen gelingt, Geschichten vom Neuen zu erzählen (anstatt Masterpläne und Projektskizzen zu veröffentlichen), fühlen sich andere eingeladen mitzutun. Überraschend für die ekm war aber auch, dass der Beratungs- und Begleitungsbedarf der Projekte etwa durch die Gemeindeberatung deutlich höher ist als ursprünglich gedacht – ein für uns interessantes Detail. Es bestätigt die Idee, wie Lernen gelingen kann. Indem von den unmittelbar anstehenden Aufgaben und Tätigkeiten bewusst Abstand genommen wird und miteinander reflektiert wird, was gerade geschieht oder zukünftig geschehen soll. Dazu ist Beratung gut: Um sich aus dem Fluss des operativen Geschehens zu bewegen und den Raum zur Reflexion zu gestalten.
Aber es kann auch “disruptiver” laufen. Thomas Schaufelberg berichtete davon, wie in Zürich in einem Teil des Kirchenamtes der reformierten Kirche der Schweiz ein Coworking Space eröffnet wurde. Dieser wird von ca. 50 Personen mit ihren Projekten aus dem Social Entrepreneurship ‘bespielt’ (https://www.blau10.ch/). Es darf wohl behauptet werden, dass beide ‘Sphären’ der Sozialunternehmer*innen und der Kirche vorher kaum etwas miteinander zu tun gehabt haben. Jetzt aber, in der räumlichen Nähe, den unmittelbaren Begegnungen in der Cafeteria, bei Coachings, den gemeinsamen Aufgaben zur Gestaltung des Coworking-Spaces u. a. m. stellt sich heraus: Beide Partner haben das große Ziel, die Welt zu einem besseren Ort zu machen; sie wussten bisher nur fast nichts voneinander.... Es entstehen überraschend erfolgreiche Kooperationen – auch fachlicher Art. Und das Tempo verändert sich – damit einhergehend auch die Fehlerfreundlichkeit. Vernetzungen gut zu gestalten ist erlernbar: Die Kirchenleute lernen “rapid prototyping”, die schnelle Umsetzung von Vorhaben, ihre Veränderung und Skalierung (“Lasst uns Lösungen nicht für die kleine Gruppe finden, sondern gleich für 2 Mio. Menschen!”). Die Co-Worker*innen der Entrepreneurships sind beeindruckt von der soliden Fachlichkeit der Professionen in der Kirche, ihrer Erfahrungen und Inhaltsgetriebenheit.
Wie viel Energie das Thema Innovation in der Evangelischen Kirche entwickelt, zeigt sich auch daran, dass immer mehr Landeskirchen in diesem Bereich aktiv werden. Ganz aktuell befindet sich die kurhessische Kirche in der Startphase eines solchen Projektes. Eva Hillebold berichtete als Geschäftsführerin des Reformprozesses EKKW in einem Workshop, wie die Innovationsfähigkeit der Landeskirche gestärkt werden soll. Leitend sind dabei die Einsichten, dass es notwendig ist, die Resonanzfähigkeit der Organisation zu stärken, Räume für Innovationen zu eröffnen und dass Innovationen kaum planbar sind, sondern sich erratisch und in Sprüngen vollziehen.
Spannend ist auch der Blick in die diakonische Arbeit. Dort sorgt die Orientierung am Markt schon lange für einen höheren Innovationsdruck. Irina Porada berichtete als Leiterin des Regionalen Diakonischen Werkes Limburg-Weilburg davon, welche Rolle die Förderung von Innovationen für einen Dienstleister im Non-Profit-Bereich hat, wie es darüber gelingen kann, sich am Markt zu behaupten und wie viel Energie eine innovative Haltung in eine Organisation bringen kann.
Lehrreich ist auch der Blick in die Welt der Finanzindustrie, ein traditionell eher strukturkonservativ geprägter Bereich. Adrian Brüll gab als Leiter Unternehmensentwicklung AKA (Ausfuhrkredit-Gesellschaft mbH Frankfurt) Einblicke, wie sich im Finanzbereich der Kulturwandel zu mehr Innovation vollzieht. Angesichts enormer Herausforderungen, die etliche lang bewährte Geschäftsmodelle in Frage stellen, wird in vielen Unternehmen der Branche mit hoher Geschwindigkeit der Organisationswandel in Richtung Innovation, Ideation und Agilität betrieben.
In den Inputs und Diskussionen der Denkwerkstatt wurde deutlich: das Thema Innovation entwickelt viel Energie. Der Blick in andere kirchliche und in nichtkirchliche Kontexte gibt Anregungen für das eigene Handeln – etwa im Bereich des eigenen Dekanats oder der eigenen Gemeinde. Mehr als Anregungen kann es aber nicht geben. Für die Stärkung der Innovationskultur in der eigenen Organisation können keine Rezepte von außen genutzt werden. Stattdessen braucht es den Aufbruch in die offene Landschaft der Innovation, das Wandern im weiten Horizont und die Bereitschaft zum Suchen, Scheitern und Finden – getragen von der hoffnungsvollen Haltung, dass im Unbekannten viel Segensreiches zu entdecken ist.
Jutta Rottwilm,
Dr. Christopher Scholtz