Von Äpfeln, Anhängern und Allianzen: Wie Netzwerke funktionieren
In diesem Artikel nähern wir uns Netzwerken aus einer ungewöhnlichen, aber äußerst anschaulichen Perspektive: dem Herstellen von Apfelsaft. Anhand dieses Vorgangs werden drei grundlegende Logiken beschrieben, denen das soziale Miteinander folgen kann: die Marktlogik, die Kooperationslogik und die Organisationslogik. Welche Rolle diese drei Logiken in einem Netzwerk spielen und warum Vertrauen dabei der eigentliche Saft der Sache ist, lesen Sie hier.
Vor einigen Jahren habe ich damit begonnen, im Herbst Obst zu ersteigern, um Apfelsaft daraus keltern zu lassen. In der “Naivität des ersten Mals” habe ich die Menge an Äpfeln, die ein Baum tragen kann, und das Gewicht einer großen Menge Äpfel immens unterschätzt. Bereits beim Einladen der ersten Säcke war offensichtlich, dass dieser Plan zum Scheitern verurteilt war. Mein Auto ist für den Transport solcher Obstmengen nicht ausgelegt.
Da ich sehr ländlich lebe, besitzen viele Menschen einen Anhänger für Autos, und so habe ich schnell Hilfe finden können. Zudem waren wir uns umgehend handelseinig: ein paar Liter frisch gepressten Apfelsaft als Gegenleistung für das Ausleihen des Transportmittels.
In der Organisationswissenschaft wählt man für dieses recht alltägliche Ereignis den Begriff des Marktes oder genauer gesagt der Marktlogik. Auf dem Markt wird getauscht – in diesem Fall Saft gegen Hänger. Bereits mittelalterliche Märkte haben so funktioniert: „Ich gebe, damit du gibst“ (“do ut des”). Der organisatorische Rahmen dafür ist in erster Linie eine vereinbarte Zeit und ein gemeinsamer Ort. Zugegebenermaßen gehörte im oben genannten Beispiel eine gehörige Portion Zufall dazu, dass das “Geschäft” ohne eine konkrete Verabredung zustande gekommen ist. Die Steuerung geschieht dabei vorrangig durch Verhandlung in einem rahmengebenden Reglement. Der Vorteil liegt auf der Hand: Eine solche Organisationsform ist äußerst spontan und fluide, denn möglicherweise wäre der Ausleihende auch mit einem Dankeschön, einer Schachtel Pralinen oder einen Zehn-Euro-Schein einverstanden gewesen. Der Nachteil ist nicht weniger offensichtlich: Was wäre wohl gewesen, wenn dieser hilfreiche Mensch seinen Anhänger selbst benötigt oder bereits einem Nachbar versprochen hätte?
In den folgenden Jahren bin ich – als durchaus lernfähiger Mensch – etwas strukturierter vorgegangen. Bereits im Vorfeld habe ich abgesprochen, dass ich gerne das eben bereits erwähnte Transportmittel ausleihen und nutzen würde. Der Besitzer machte den Vorschlag, dass ich doch im Gegenzug sein Obst mit in die Kelterei nehmen könnte.
Selbstverständlich hat die Organisationswissenschaft auch hierfür einen Begriff. Es handelt sich naheliegenderweise um eine Kooperationslogik. In dieser werden die Unterschiede produktiv genutzt. Die Menschen oder Organisationen sind vor allem durch ein gemeinsames Ziel und ein geteiltes Verständnis und Interesse miteinander verbunden. Häufig durch einen Vertrag – im oben genannten Beispiel durch den sprichwörtlichen Handschlag – festgehalten. Die Steuerung geschieht hierbei vorrangig durch Verhandlung, und es können Ziele erreicht werden, die allein nicht oder nur erheblich aufwendiger erreicht werden können. Nachteilig ist, dass je nach Verhandlungsgegenstand Aushandlungsprozesse schnell (hoch)komplex und somit störungsanfällig werden können. Zudem steht und fällt die Kooperation mit dem gemeinsamen Ziel. Was wohl gewesen wäre, wenn der Verleiher des Anhängers keinen Apfelsaft gemocht hätte?
Die Kelterei, zu der ich jährlich das Obst bringe, hat für den Transport von Äpfeln eine ganz andere Lösung. Auf dem Betriebshof stehen unterschiedliche Transportfahrzeuge: Ein Hänger mit riesigem Fassungsvermögen für die Anlieferung von Äpfeln. Ein landwirtschaftliches Nutzfahrzeug, um den Trester auf Ackerflächen auszubringen und einen Kühlwagen, um den gekelterten Saft im Sommer zu transportieren. Meine oben beschriebenen Lösungswege wären für die professionelle Kelterei vollkommen unzureichend.
Natürlich hat die Organisationswissenschaft auch hierfür einen Begriff. Sie spricht von der Organisationslogik. In dieser dienen die Ressourcen, die Strukturen und die Steuerung der Zielorientierung. In ihr sind Menschen durch hierarchische Ordnung und einen vereinbarten und geregelten Tausch in das System eingebunden. Vorherrschende Steuerungselemente sind dabei Macht und Reglement, deutlich weniger Aushandlung. Klar strukturierte Systeme können in dieser Logik effizient entscheiden, neigen jedoch (vor allem in steigender Komplexität) zur Verantwortungsdiffusion.
Netzwerke funktionieren, indem sie die hilfreichen Eigenschaften aller drei Logiken - also flexiblen Tausch (Marktlogik), Kooperationsgewinn aufgrund der Unterschiedlichkeit (Kooperationslogik) und effiziente Zielorientierung (Organisationslogik) – durch Vertrauen erfolgreich miteinander verbinden. Das Vertrauen macht weitestgehend den Verzicht von Vereinbarung von Ort und Zeit, Vertraglichkeit und Hierarchie sowie den Tausch von Geld gegen Zeit möglich.
Funktionierende Netzwerke sind in der Lage, flexibel Fachfremdes zu integrieren, wodurch sie sich bewusst selbst irritieren und somit hoch innovativ agieren können. Dabei geschieht ihre Steuerung im Wesentlichen durch Resonanz und Feedback(schleifen). Dadurch stärken Netzwerke die Eigenverantwortung der zugehörigen Menschen und vermindern somit lange Verantwortlichkeitsketten und die daraus häufig resultierende Verantwortungsdiffusion. Zu den Anreizsystemen gehören Fehlerfreundlichkeit und -toleranz und die damit verbundene Kompetenzerweiterung.
Nicht selten gibt es in Netzwerken fließende Übergänge von beruflichen und privaten Beziehungen. Sie sind daher eher für Menschen geeignet, die darin eine Wertschöpfung erleben. In dieser steht das Geld nicht an erster Stelle, sondern neben den gerade erwähnten Beziehungen das Erleben hoher Sinnhaftigkeits- und Wirksamkeitserfahrungen.
Zusammengefasst: In Netzwerken …
… gibt es wenig(er) direkten Tausch. Inputs und Investitionen kommen häufig vermittelt, indirekt und selten monetär zurück.
… sind Ziele fluider („Worin besteht das Ziel?“) und ein kollektiv(er)es Ergebnis („Wer entscheidet, was das Ziel ist?“). Beides führt zur höheren Wahrscheinlichkeit der oder – treffender – einer Zielerreichung.
… wird die Unterschiedlichkeit gesucht, gefördert und bewusst gestaltet, wodurch die Netzwerke resilient(er) werden und das Handlungsspektrum erweitern.
… zeigt sich Vertrauen durch konkrete Handlungen (Unterstützung), sowie Fehler- und Konfliktfreundlichkeit.
Wenn Sie mögen, dann schauen Sie doch jetzt mit der Netzwerkbrille auf den oben beschriebenen Vorgang der Entstehung meines Apfelsaftes: Wie viel Netzwerk können Sie entdecken …?