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 Aus dem Wörterbuch des Wandels

 Renovation & Exnovation





Bild: copyright Pavel chernonogov on pexels.com


Wir – IPOS - sind umgezogen, vorübergehend. Das Haus Friedberg wird renoviert. Wer da wie ich seit Jahren ein und ausgegangen ist, hat es vielleicht gar nicht so bemerkt. (So geht es einem oft mit den vertrauten Umgebungen.) Allerhand ist da in die Jahre gekommen. Gebrauchsspuren sind allmählich sichtbar – obwohl unsere "Altvorderen" teure, robuste und zeitlos schöne Möbel und Arbeitsmittel wie Flipcharts und Stellwände angeschafft hatten. Und die Hauswirtschaft hat das ihre getan, um das Haus zu einem guten Ort für Kunden und Mitarbeitende zu machen.

 

Aber jetzt wird renoviert – und umgebaut. Die Anforderungen haben sich verändert: der Zugang soll barrierefrei werden; künftig sollen alle Stockwerke und Räume von allen gut erreichbar sein. Räume werden umgebaut: weitere Büros werden errichtet, damit die neuen Mitbewohner:innen – das Dekanat Wetterau mit seiner GÜT (gemeindeübergreifende Trägerschaft für KiTas) – gut und effektiv arbeiten können. Wir brauchen Begegnungsflächen für Besucher:innen, Kunden und Mitarbeitende – und schnellen Zugang zu Kaffee, Obst und Keksen… und dem Garten. Weiterhin sollen alle gut versorgt sein. Etliche Leitungen werden neu gezogen werden müssen: schnelles Internet und LED-Lampen sind nur zwei von mehreren Feldern, um die Nachhaltigkeit im alltäglichen Wirtschaften voranzubringen. 


Renovation passt (im Arbeitskontext der Organisation) die Arbeitsumgebung und die Arbeitsprozesse den akuten Bedingungen fortlaufend an und versucht sie zu verbessern. Die Optimierung geschieht meistens nicht so umfassend und ausdrücklich wie beim Hausumbau. Dafür aber machen sich die Mitarbeitenden, egal ob hauptamtlich oder freiwillig, ständig am Arbeitsgegenstand und den Arbeitsbedingungen "zu schaffen". Kopierer werden dorthin gestellt, wo sie am wenigsten die Luft belasten und am besten für alle zugänglich sind. Mit der neuen Software werden Prozesse verschlankt, Wege werden kürzer, die Kommunikation verdichtet und häufiger. In Schränken werden Altlasten gefunden und in den Müll gebracht… Im Arbeitsalltag wird also unablässig (und oft genug unbemerkt) "renoviert". Das geschieht, weil Menschen in der Regel gerne arbeiten und ihre Arbeit gut tun wollen. Diese (intrinsische) Motivation ist der größte Schatz einer Gemeinde, eines Betriebes, einer Organisation. Es ist gut, die Renovierungsarbeiten von Zeit zu Zeit bewusst wahrzunehmen und generell dafür dankbar zu sein, dass sie getan werden. Mehr Barrierefreiheit, mehr Begegnungsmöglichkeiten und mehr Nachhaltigkeit zeigen die Richtung äußerlicher und inhaltlicher Renovierungsnotwendigkeiten für die Organisationen an.


Und jetzt sind wir hier in Karben im neuen Domizil. Etliche Möbel sind mitgekommen; ich sitze quasi an "meinem" alten, gewohnten Schreibtisch aus "meinem" alten Büro, aber in neuer Umgebung. Ich greife nach rechts unten, um die Schublade mit den Stiften rauszuziehen. Ich habe ein Flipchart vorzubereiten. Aber da ist nichts!!!! Was soll das denn???? Ganz einfach: Der rollbare Unterschrank steht jetzt auf der anderen Seite. Links. Immer wieder in diesen Tagen greife ich ins Leere (wie ärgerlich!?). Es dauert lange, bis eingespielte Routinen aufgegeben, also verlernt werden und Platz für Neues im Gehirn schaffen. Jedes Mal braucht es einen bewussten Anlauf. Der tut Not: im Zuge zunehmender Volatilität sind auch unsere Arbeitsweisen "flüssiger" geworden – die shared desks sind dafür nur ein Anzeichen. Allerhand mussten wir verabschieden aus unserem Sortiment – um Platz zu schaffen für Beratungs- und Diskursangebote, für Kooperationen u.a.m., die morgen (und auch schon heute) gebraucht werden. 


Exnovation  wird das Abschaffen von jenen Produkten, Dienstleistungen und auch mentalen Vorstellungen genannt, die den Weg in eine neue Zukunft versperren. Erst wenn sie weg sind, entsteht der innerliche und äußere Raum für Innovationen. Das Besondere daran: diese "Bestände" sind nicht notwendig, (schon) aufgebraucht oder erfolglos. Es gibt immer noch Abnehmer und Freundinnen der gewohnten Güter, z. B. gemeindlicher Veranstaltungen, "die es immer schon gab", die eben zum Bestand dazu gehören. Aber Aufwand und Nutzen stehen in einem unguten Verhältnis zueinander – Ressourcen werden gebunden, die woanders nicht eingesetzt werden können.


Als Beispiel sei hier etwa der sonntägliche Kindergottesdienst für eine kleine Gruppe weniger Kinder genannt. (Natürlich sind es diese fünf Kinder wert! Natürlich haben sie und die Durchführenden Gewinn davon!). Aber man muss wissen, was man tut. Etablierte Angebote, ja sogar die Idee, Angebote vorzuhalten als Gemeinde, kann eine ungute "Pfadabhängigkeit" herbeiführen: den unwillkürlichen Reflex, etwas beizubehalten, egal wie zukunftsträchtig es sein mag. Der schon geschehene Invest (hier an Vorbereitungszeit, an Werbung, an vorbereitenden Gesprächen, an Vorbereitung von Ort und Zeit und zur Durchführung selbst, die fröhliche Dankbarkeit der Gruppe, die glückliche Kooperation) ist so hoch, dass niemand auf die Idee kommt, die kritische Frage nach der Sinnhaftigkeit (dieser Form der Verkündigung an den Kleinen) abschlägig zu beantworten. 

 

Fatal ist nun aber, dass Veränderungen, die über die o. g. "alltägliche" Renovation hinausgehen, in unserer Erfahrung der Beratungsprozesse mindestens 10 – 20 % der zur Verfügung stehenden Kräfte brauchen: also der "Köpfe" mit ihrer Arbeitszeit, egal ob diese Zeit erwerbsmäßig oder als freiwillige Arbeit eingebracht wird. 10 – 20 %! Und das, obwohl vielerorts schon jetzt die Last der sich verdichtenden Arbeit nur unter großen Anstrengungen und mit stillen Überstunden (also Arbeitszeit, die nicht offiziell gelistet wird) zu meistern ist! 


Hier brauchen wir uns keiner Illusion hinzugeben: Wenn es wirklich darum gehen soll, Ideen und Arbeitsvorhaben zu entwickeln, um die Gemeinden, die Nachbarschaftsräume, die Kirche, die Organisationen… fit für die Zukunft zu machen, dann ist die Verabschiedung von liebgewordenen Veranstaltungen und Denkgewohnheiten die Voraussetzung dafür. Sehr handfest ist Platz zu schaffen, um dem Neuen überhaupt eine Chance zum Werden und Wachsen einzuräumen und den beteiligten Personen die Luft zum Atmen zu lassen und ihre Kraft zu erhalten. Innovation geht erst, wenn Exnovation stattgefunden hat. Als "Renovierungsvorhaben" ist die Zukunft für Kirchen und Gemeinden nicht zu haben. Das ist traurig und schmerzhaft – aber dann auch befreiend: Dann, wenn 10 - 20 % der bisherigen Ressourcen zunächst für die Exnovation eingesetzt wurden.


Jutta Rottwilm

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