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    Ambidextrie: Mit "beiden Händen" in die                  Veränderung der Kirche 



Eine zukunftsfähige Kirche braucht sowohl die Pflege der Tradition als auch die Entwicklung neuer Konzepte. Das ist leicht formuliert, birgt aber eine große Herausforderung. Denn die Pflege der Tradition und die Schaffung von Neuem bauen auf widersprüchlichen Logiken und Haltungen auf. Wie aber kann es gelingen, innerhalb einer Organisation unterschiedliche Logiken zu bedienen? 

 

Vor dieser Frage stehen aktuell nicht nur die Kirchen, sondern auch viele Unternehmen. Angesichts einer rasanten technischen Entwicklung und sich schnell verändernder Märkte müssen sie sowohl ihre bisherigen Produkte am Markt halten als auch neue Ideen entwickeln und zur Marktreife bringen. 

 

Als Reaktion darauf ist das Konzept der Ambidextrie entstanden. Wörtlich bedeutet es Beidhändigkeit, also die Fähigkeit, Handlungen mit beiden Händen gleich gut ausführen zu können. Ich möchte hier zunächst die Ambidextrie im unternehmerischen Kontext vorstellen und dann schauen, an welchen Punkten Kirche bereits beidhändig unterwegs ist und wo sie mehr Ambidextrie wagen könnte. 

 

In der aktuellen Situation wird in der Unternehmenswelt aus den oben genannten Gründen größter Wert auf Innovationsfähigkeit gelegt. Daher sind Startups momentan die Stars unter den Unternehmen: Sie sind in ihrer ganzen Struktur auf Innovation ausgerichtet. Aber Innovation allein hält auf Dauer kein Unternehmen am Leben – nicht zuletzt, weil sie viel Geld verschlingt. Es braucht auch die Fähigkeit, ein bestehendes Produkt am Markt zu halten und damit Geld zu verdienen. Diese beiden gegenläufigen Fähigkeiten machen das Herz der unternehmerischen Ambidextrie aus. Für sie hat sich das folgende Begriffspaar ausgebildet: Mit Exploration wird die Haltung des Experimentierens beschrieben, die es ermöglicht, Neues zu entdecken. Mit Exploitation hingegen wird  die Fähigkeit beschrieben, ein bestehendes Produkt mit möglichst geringem Aufwand kontinuierlich weiterzuentwickeln, so dass sich damit lange Zeit Geld verdienen lässt. 

 

Trotz aller lautlichen Nähe liegt zwischen Exploration und Exploitation eine unauflösbare Spannung. Viele Menschen neigen von ihrer Grundausrichtung eindeutig einer Seite zu: ein Elon Musk produziert ständig neue und oft verrückt erscheinende Ideen, findet es aber eher langweilig, einen einmal eingespielten Produktionsprozess zu managen. Die Kunst der Ambidextrie besteht darin, innerhalb einer Organisation für höchst unterschiedliche Menschentypen und ihre widerstreitenden Handlungslogiken Platz zu finden, und zu verhindern, dass sie sich gegenseitig blockieren. Ambidextrie ist somit die Fähigkeit, mit dauerhaften Grundwidersprüchen produktiv umzugehen. 

 

Daraus ergibt sich eine interessante Perspektive auf die evangelische Kirche. Diese integriert in sich viele Spannungen und Widersprüche, etwa der Widerstreit der theologischen und der (kirchen-)juristischen Logik, die theologische Pluralität, die Spannung, die sich aus der Überlagerung unterschiedlicher Selbstverständnisse (Kirche als Institution, Organisation, Bewegung, Netzwerk...) ergibt und das Nebeneinander von haupt- und ehrenamtlicher Tätigkeit. Diese Widersprüchlichkeit wird oft als Defizit wahrgenommen. Aus dem Blickwinkel der Ambidextrie ist sie aber eine wichtige Ressource, eine Fähigkeit, die für die Entwicklung einer zukunftsfähigen Kirche gebraucht wird. 

 

Vom Standpunkt der Ambidextrie aus sind kirchliche Innovationsprogramme und kirchliche Startups wichtig, aber sie allein reichen nicht. Es braucht auch die Fähigkeit, das Bestehende weiter zu pflegen und behutsam anzupassen. Und vor allem braucht es die Kompetenz, diese beiden Logiken trotz ihrer Widersprüche gleichzeitig zu ihrem Recht kommen zu lassen. 

 

In einem klassischen Verständnis von Leitung geht es darum, Widersprüche aufzulösen. Aus der Perspektive der Ambidextrie hingegen geht es darum, die Widersprüche aufrecht zu erhalten, dafür zu sorgen, dass sowohl das Agile als auch das Stabile zu seinem Recht kommt, sowohl die Effizienz als auch die Innovation ihren Platz hat und Exploration genauso möglich ist wie Exploitation. Es gilt auch der Versuchung zu widerstehen, eine dritte Logik zu entwickeln, in der sich die Widersprüche auflösen können. Eine solche Masterlogik kann es nicht geben. Es geht vielmehr darum, immer wieder neu ein gutes Nebeneinander der Gegensätze zu ermöglichen – sei es durch Pendeln, Springen, Kooperieren, Aushandeln, Leben der Diversität oder was auch immer. Im Idealfall ergänzen sich die beiden widerstreitenden Logiken (Komplementarität). Im schlimmsten Fall aber bekämpfen sie sich (Antagonie). 

 

Schon grundsätzlich ist in der kirchlichen Kultur des Ausgleichs und der Harmonie die Sehnsucht groß, Widersprüche aufzulösen. Und nun, angesichts der Verunsicherung, die sich aus der aktuell immer deutlicher werdenden Veränderungsnotwendigkeit ergibt, wächst in der Kirche die Sehnsucht nach Klarheit, Eindeutigkeit, Überschaubarkeit – also nach einer widerspruchsfreien Orientierung. 

 

Es ist für kirchliche Leitungskräfte daher nicht leicht, der Sehnsucht nach Eindeutigkeit zu widerstehen. Darin bestärken kann sie aber das Ergebnis einer empirischen Untersuchung im Unternehmenskontext: „Der eine entscheidende Faktor, der zwischen Erfolg und Scheitern entscheidet, ist die Fähigkeit der Führungskraft und ihres Teams, sich auf Widersprüche und Paradoxien einzulassen. Diese Kompetenz, mit Widersprüchlichkeit d’accord und konsequent inkonsistent zu sein, macht die erfolgreichsten ambidextren Unternehmen aus.“ (Michael Tushman in: https://www.zoe-online.org/erfahrung/4072/) 

 

In diese Haltung zu kommen ist nicht leicht – zu tief sitzt die Vorstellung, dass wir es nur dann richtig machen, wenn wir keine Widersprüche produzieren. Um sich aus diesem alten Denken heraus für die neue Haltung zu öffnen, kann ein Blick in die theologische Tradition helfen. Auch hier entdecken wir an viele Punkten Widersprüche und Inkonsistenzen – oder zumindest erscheinen sie bei oberflächlicher Betrachtung als solche. Theologische Denkfiguren wie die der Trinität oder der Zwei-Naturen-Lehre können uns im Kontext der Ambidextrie helfen, mit und in Widersprüchen so zu handeln, dass daraus ein größeres Ganzes erwachsen kann. 

 

[Dieser Artikel beruht auf einem Workshop beim 7. Kongress für Personalentwicklung in der Kirche „Veränderung mit Hirn! Personalentwicklung in einer lernenden Organisation“ am 8. Juni 2021. Ich danke den Teilnehmer*innen für die lebhafte Diskussion und zahlreiche Anregungen] 


Dr. Christopher Scholtz


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