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Notfall-Apotheke: 7 Schritte zur Kunst des Loslassens





Wie kann es in Situationen der Erschöpfung oder Überforderung gelingen, Aufgaben und Verantwortungen loszulassen, um möglichst schnell eine Entlastung zu erreichen und damit wieder handlungsfähig zu werden? Man sagt gerne, dass auch die längste Reise mit dem ersten Schritt beginnt – aber eigentlich beginnt sie bereits mit dem Beschluss, aufzubrechen. Genauso beginnt das Loslassen mit der Einsicht, dass eine Reduktion der Aufgaben notwendig ist. Diese Einsicht kann vom Chaos in der Organisation, einem hohen Krankenstand oder einem Gefühl der Überforderung ausgelöst werden. Sie bildet die Basis für den längeren Prozess des Loslassens. Daher sollte diese Basis stabil und haltbar sein und deshalb ist es wichtig, die Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung mit anderen Menschen zu teilen und sie damit zu festigen – sei es im Gespräch mit Kolleg*innen, Freund*innen oder eine*r Berater*in. 

 

Schritt 1: Die Akzeptanz, dass Loslassen schwer ist 

Wenn wir Dinge loslassen wollen, dann soll damit unsere Situation leichter werden. Dummerweise ist das Loslassen selbst eine ziemlich schwere Angelegenheit. Denn das, an dem wir festhalten, mag uns überfordern und in die Erschöpfung treiben, aber in der Regel haben wir gute Gründe, es zu tun: Verantwortung, Pflichtgefühl, Erwartungen, Traditionen und andere hohe Werte sind es, die uns dazu bringen, etwas zu tun, auch wenn es uns belastet. Daher bedeutet loszulassen nicht einfach, etwas nicht mehr zu tun, sondern sehr oft muss man innerlich und/oder äußerlich viel tun, um etwas nicht mehr tun zu müssen. Tückischerweise fällt uns dieser Aufwand dann besonders schwer, wenn wir überfordert und erschöpft sind – und gerade dann ist der Bedarf, etwas loszulassen, besonders hoch. Diese Schwierigkeit gilt es zu akzeptieren, und rücksichtsvoll mit sich selbst zu sein, wenn es nicht sofort gelingt, Dinge loszulassen. 

 

Schritt 2: Akute Entlastung schaffen durch Pausieren 

Weil das endgültige Loslassen oft ein beherztes Zugreifen braucht, ist es mitunter leichter, Dinge zunächst „nur“ zu pausieren, statt sie ganz abzuschaffen. Aktivitäten vorübergehend auszusetzen ist auch ein Experiment, um zu überprüfen, für was diese Dinge eigentlich tatsächlich gebraucht werden. Nicht selten kommt zwar auch das Pausieren wie ein bedrohlicher Einschnitt daher – häufig ist dann aber die Überraschung groß, wenn das Fehlen gar nicht auffällt und die anderen Dinge gut weiter funktionieren. Wenn auch das Pausieren zunächst nicht gelingen mag, hilft die Frage, was passiert, wenn nichts passiert. Dann wird schnell klar, dass mögliche Folgen wie Krankheit, Konflikt oder Kündigung meist ein größeres Risiko darstellen als die befürchteten Konsequenzen des Pausierens. 

 

Schritt 3: Der Personalisierungsfalle entkommen 

In erschöpften Organisationen ist der Stress hoch, und im Stress suchen wir für ein Problem gerne einen Schuldigen. Das schafft zwar eine kurzfristige emotionale Erleichterung, sorgt dann aber für interne Konflikte oder, beim Verweis auf einen externen Verantwortlichen, zu Ohnmachtsgefühlen – beides erhöht den Stresspegel. Daher sollte auf Schuldzuweisungen verzichtet werden. Das gilt auch mit Blick auf die eigene Rolle. Ständig wiederkehrende Gedanken der Art „Es liegt nur an mir selbst, dass ich mit meiner Arbeit nicht zurande komme“ sind oft die Eintrittskarte in das Land der Depressionen und des Burnouts. Statt nach der Schuld sollte nach Lösungen gesucht werden. In der akuten Situation bedeutet das, gemeinsam Dinge zu suchen, die pausieren können, und später auf die Veränderung von Strukturen und Abläufe zu schauen. 

 

Schritt 4: Die eigene Verantwortung klären und begrenzen 

Überforderung und Erschöpfung kommt oft daher, dass die Verantwortung von Menschen oder Organisationen zu groß geworden ist. Im Business-Kontext entsteht diese Verantwortungsüberforderung aus Kürzungs- und Sparmaßnahmen oder einer unerwartet hohen Nachfrage. Im Non-Profit-Bereich kommt oft das overcommitment hinzu. Menschen arbeiten in diesem Bereich intrinsisch motiviert: Sie wollen andern Menschen helfen, Missstände beseitigen etc. und übernehmen daher Verantwortung, auch ohne, dass sie dies müssten. Bei Organisationen passiert Ähnliches. Hier spricht man vom mission creep, der schleichenden Ausweitung eines Auftrages oder einer Verantwortung. Aus beidem resultiert eine strukturelle Überforderung, der nur begegnet werden kann, wenn genau geklärt wird, was in die eigene Verantwortung fällt und was nicht. Wichtig ist, sich klarzumachen, dass niemandem geholfen ist, wenn eine Verantwortung zwar übernommen wird, aber ihr dann wegen Überforderung nicht nachgekommen wird. Allerdings ist es niemals leicht, Verantwortung abzugeben, selbst wenn es nur um ein Pausieren geht. Besonders im Bereich der Betreuung und Pflege entstehen bei solchen Begrenzungsversuchen oft schmerzhafte Zwickmühlen: Der Erschöpfung auf der Seite der Arbeitenden stehen die Bedürftigkeit und Not der Klient*innen gegenüber. 

 

Schritt 5: Den Sinn des eigenen Handelns wieder sichtbar machen 

Im Trubel des Arbeitsalltages geht oft der Blick für den Sinn des eigenen Handelns verloren. Das geschieht überraschenderweise auch dort, wo Außenstehende die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit kaum anzweifeln würden, etwa im Bereich der Pflege oder der Fürsorge. Der Verlust der Sinnperspektive schwächt die Menschen und die Organisationen, ganz besonders in Zeiten hoher Belastung. Wenn aber das Gespräch über die Bedeutung und Sinnhaftigkeit in Gang kommt, ist das eine wichtige Stütze für das Loslassen. Es hilft bei der Sortierung, welche Aufgaben wirklich wichtig sind und welche losgelassen bzw. pausiert werden können. Und wenn wir wieder klar sehen, wozu wir etwas tun, dann gibt uns das auch Kraft. Diese Kraft darf aber nicht genutzt werden, um die letzten Reserven zur Bewältigung der zu groß gewordenen Verantwortung zu mobilisieren, sondern sollte als Rückenwind im Prozess des Pausierens und Loslassens genutzt werden. 

 

Schritt 6: Den Stress durchbrechen 

Erschöpfung und Überforderung erzeugen Stress, und Stress schränkt unsere Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit ein. Daher fällt es uns in Phasen des Stresses besonders schwer, Dinge zu tun, die uns guttun – obwohl wir das gerade in solchen Situationen am meisten bräuchten. Aber wir sollten es trotzdem versuchen, uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Stresses zu ziehen – denn damit gewinnen wir Handlungsfähigkeit und haben bessere Chancen, Dinge tatsächlich loszulassen. Auf der individuellen Ebene kann jede*r für sich schauen, welche Elemente aus dem überbordenden Angebot am besten passen, sei es Waldbaden, Handarbeit, Sport oder Meditation. In Organisationen kann es eine Erste-Hilfe-Maßnahme sein, für ein angenehmeres Umfeld zu sorgen. Allerdings sollte die Selbstfürsorge nicht zum nächsten Punkt auf der unendlichen To Do Liste werden. Manchmal ist es schon ausreichend, das Unwohlsein auszuhalten und sich zu erlauben, ausgelaugt, demotiviert und erschöpft zu sein. Eine solche Annahme des Ist-Zustandes ist oft die Voraussetzung für eine nachhaltige Veränderung. 

Unter Stress verwahrlosen die Räume von Organisationen oft. Daher kann es ein wichtiges erstes Signal werden, dass die Arbeit an der Stressreduktion begonnen hat, wenn aufgeräumt wird oder Blumen aufgestellt werden. Menschen und Organisationen, die eine eigene spirituelle Praxis pflegen, sollten außerdem unbedingt darauf achten, dass der Stress diese Praxis nicht einschränkt. Die eigene Zeit der Stille oder die Andacht im Team kann für Fokussierung und Rückbindung sorgen. Dies sollte aber nicht als Schmiermittel verzweckt werden, um Stress besser auszuhalten, sondern als eine in sich bereits sinnhafte Form des Pausierens verstanden werden. 

 

Schritt 7: Einen Plan entwickeln für den Weg vom Pausieren zum Loslassen  

Die Notfall-Apotheke empfiehlt das Pausieren als Mittel der Wahl in akuten Überlastungssituationen. Aber dieses Mittel zielt eher auf die Symptome als auf die Ursachen. Daher ist es wichtig, schon in der Phase der Akutbehandlung ein erstes Konzept für den Prozess der nachhaltigen Veränderung zu skizzieren – denn damit wird allen Beteiligten signalisiert, dass es mit dem Willen zur Verbesserung ernst ist. Dieses Signal wird wirksam, wenn es klare und dokumentierte Verabredungen zu den folgenden Punkten gibt: Was ist der nächste Schritt auf dem Weg zum Loslassen? Wann wird dieser Schritt begonnen? Welche Technik, Dienstleistung oder Beratung kann uns bei diesem Schritt unterstützen? Wer übernimmt die Verantwortung für den nächsten Schritt? Im Idealfall werden diese Verabredungen für alle im Team gut sichtbar aufgehängt und halten die Erinnerung daran wach, dass es eine Phase nach der akuten Überlastung geben wird. 


Lena Lazaro / Christopher Scholtz


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