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Von Störungen und der Chance digitaler

Kontakt-Formate

Ruth C. Cohn formulierte im Rahmen ihrer Konzeptionierung der themenzentrierten interaktionellen Methode (TZI) eine geradezu banale Beobachtung, welche sie zu einem Grundsatz in der Aufmerksamkeitsfokussierung einer Situation erhob:

„Störungen nehmen sich Vorrang!“ Also sie, die Störungen, fragen nicht nach, ob sie Vorrang bekommen dürfen oder können oder sollen, zack, sie nehmen sich den Vorrang und haben ihn zunächst mal. Schnell folgt die (Meta-)Frage: und nun, was tun? Ggf. wird in einer Situation viel ausgelöst mit dem Vorrang-Nehmen durch eine Störung, und die Arbeitsfähigkeit von Einzelnen oder Vielen gerät in Disbalance. 


Man stelle sich vor, eine Arbeitsgruppe tagt zu einem Thema, viele sind aufmerksam beteiligt am Prozess – dann bedient in einem Moment ein Mensch sein Handy, bezieht womöglich noch eine zweite Person ein: schon ist sie da, eine Störung, die sich Vorrang nimmt. Die Leiterin der Arbeitsgruppe fragt sich, ob sie qua Rolle einschreiten soll, einzelne AG-Mitglieder werden gelassener oder angespannter reagieren, vermutlich ist bei den meisten die Aufmerksamkeit vom Prozess weggewandert, wenigstens zeitweise. Je nach Umgang mit der Situation, folgen weitere/andere Störungen. Dies können auch Störungen sein, die von „außen“ auf eine Situation einwirken. 

Die Antwort auf die Frage „was tun?“ hat Ruth Cohn sinngemäß so beantwortet: schenke der Störung Beachtung! Als AG-Mitglied, als Leiterin. Und entscheide, wieviel Beachtung du ihr schenkst. Unterschiedliche Situationen werden unterschiedlich viel Beachtung erfordern. Zumeist braucht es nicht viel, dann seien alle wieder arbeitsfähig, so die Hypothese. Jedoch eine Störung nicht beachten zu wollen, mache sie in jedem nur noch größer – bis zur Arbeitsunfähigkeit. 


Corona hat sich seit Mitte März Vorrang genommen – mit vielen weiteren Störungen, die da dranhingen und hängen. Es war gut, wichtig und notwendig, dieser Störung viel Beachtung zu schenken und es weiterhin zu tun. Dadurch sind Gewohnheiten weggefallen, eine Grundstimmung der Unsicherheit und Unplanbarkeit hat sich breit gemacht und hält an. Als Beratungsinstitut haben wir das deutlich zu spüren bekommen, unsere Netzwerk-Kolleg*innen in ihren Beratungstätigkeiten ebenso und sowieso unsere Kunden und Auftraggeber*innen. Allein die Bedarfe, sich auszutauschen und gerade die eingetretene herausfordernde Gesamtsituation zu besprechen und zu reflektieren, wuchsen und hörten nicht auf die Anregung zur „Entschleunigung“. Sie bildeten gleichsam eine "Folge”-Störung, die Beachtung erforderlich machte. 


So hat sich die Chance ergeben – ja geradezu aufgedrängt – digitale (/virtuelle/online-) Kontakt-Formate aufzugreifen, erlernend zu vertiefen, für viele verfügbar zu machen und dadurch den Bedarfen nachzukommen, die alsbald im IPOS anklopften: Coachings, Arbeitsprozesse und Moderationen in Gruppen, Konferenzen mit Führungskräften, Supervisionsgruppen, Ratsuchende in Personalfragen, auch Konfliktgespräche und sogar Mediationen. Bedarfe, die in Prozessen vor dem Lockdown bereits angefangen hatten, sind gewachsen – oder in genau dieser Zeit entstanden. Selbst Fortbildungsveranstaltungen und Netzwerktreffen verwandelten sich in neue angepasste Formate, wenngleich auch manche geplante Veranstaltung gestrichen werden musste. 


Nun stehen wir im Herbst und schauen ein gutes halbes Jahr zurück auf diese heftige „Störung“. Wie steht es um unsere Arbeitsfähigkeit? Welche Weise der Beachtung hat sich bewährt? Gut war aus meiner Sicht, die Störung sehr ernst zu nehmen, nicht allein aus gesundheitlicher Verantwortung heraus, sondern auch mit der frühen Frage: Welche Hochrechnungen in Bezug auf die Arbeits- und Kommunikationsprozesse lassen sich ableiten? Den Vereinzelungstendenzen in Wahrnehmung, Umgang und Lösung in individuellen Kontakt-Situationen mit Einzelnen und/oder Gruppen, in die viele Kolleg*innen hineingestellt waren, etwas entgegenzusetzen, gemeinsam und in diesem Sinne „größer“ zu denken, vorhandene Ressourcen zu nutzen, Expertise hinzuzuholen, also „Krisenmanagement at its best“ zu betreiben, das wurde attraktiv und lohnend.


Es wurde auch anstrengend und erforderte viel Veränderungsbereitschaft. Sich einzulassen auf andere Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten per Video, Chat und auf Plattformen, zu allermeist aus den heimischen Arbeitsplätzen heraus, war und ist für sehr viele Kolleg*innen in der sozial-kirchlichen Beratungsbranche fremd und unvertraut, für manche auch eine Unmöglichkeit – im Sinne der eigenen Überzeugung und für einige auch aufgrund technischer Voraussetzungen. 


Ich staune jedoch hauptsächlich darüber, wie viele sich mit Mut und Entdeckergeist eingelassen haben: virtuelle Kontaktformate zu erlernen, online-Begegnungs-Anbieter (Videokonferenzen) in ihrer Unterschiedlichkeit zu bedienen und sich mit Fragen auseinandersetzen, die bislang kaum bis gar nicht im Beratungskontext eine Rolle gespielt haben: 


  • Wie wirkt sich das Virtuelle auf meine Selbststeuerung aus? 
  • Wie geht es mir, wenn ich mich selbst am Bildschirm sehe? 
  • Was lösen die unterschiedlichen Bildschirm-Hintergründe aus? 
  • Welchen Einfluss hat die Technik auf die Leitung und die Teilnehmer*innen? 
  • Was fördert ein gutes Arbeitsklima im virtuellen Meeting? 


…hier liegen viele Möglichkeiten für „Störungen“… Die Chancen jedoch effizienteren Arbeitens oder immer häufiger anzutreffenden hybrider Formate aus Präsenz- und online-Treffen beginnen sich als feste positive Erfahrung zu verankern. 


Auch wenn es in den Vorbereitungen einen deutlichen höheren Aufwand als gewohnt bedeutet, bieten wir im IPOS derweil alle unsere Beratungsformate ebenso als online-Varianten an und erweitern unsere Erfahrung und Expertise damit täglich. 


Als Zwischenbilanz möchte ich festhalten, sowohl viele unsere Kunden und Auftraggeber*innen als auch viele Kolleg*innen in unseren Berater*innen-Netzwerken erleben den „Digitalisierungsschub“ als eine Chance. Vor allem eine Chance in Kontakt zu bleiben in schwierigen Zeiten mit diversen Störungen in sehr unterschiedlichen Lebensbereichen. 


Georg Grillenmeier, Fachstelle Supervision 



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